Studium statt Abwanderung

Geschriebene Türen zur Ewigkeit

Touristen und Pilger, die nach einem echten Souvenir ihres Besuchs im Heiligen Land Ausschau halten, das nicht in China, Indien, der Türkei oder Ägypten in Serie hergestellt wurde, werden womöglich im „Bethlehem Icon Centre“ fündig. Das Ikonen-Zentrum in der Geburtsstadt Jesu ist das einzige Projekt dieser Art im Nahen Osten. 

Im Oktober 2012 öffnete das „Icon Centre“ in einem höhlenartigen Keller, nur einen kurzen Spaziergang von der Geburtskirche entfernt, seine Türen. Das Ziel: Schüler aus Palästina in der alten Kunst der Ikonografie auszubilden – ein ehrgeiziges Projekt. Die ersten Schüler sind ein ökumenischer Haufen, darunter zwei Kopten, vier Griechisch-Orthodoxe, zwei Syrisch-Orthodoxe und zwei Katholiken. 

Die jungen Leute üben geduldig ihre Pinselstriche. Das bärtige Antlitz Christi nimmt auf einem Stoß  weißer Blätter allmählich Gestalt an: ein Dutzend Variationen mit einem Dutzend unregelmäßiger Züge. Einige der Studenten sind bereits Künstler, andere haben keine oder nur eine geringe künstlerische Ausbildung. Aber dieses neue Handwerk ist eine Herausforderung für alle. 

Der Ausbilder ist geduldig

Sie arbeiten sich mit Fehlern und durch alle Fehlstarts hindurch. Manchmal blicken sie finster drein und seufzen vor Frustration. Der Ausbilder ist geduldig und demonstriert immer wieder die Grundlagen: wie man eine Linie mit einem Pinsel zeichnet. Wie man die Farbe mischt. Wie man ein Gesicht auf einem weißen Blatt zustande bringt. Langsam wird an einigen Stellen das heilige Antlitz auf dem Papier lebendig.  

„Bewegen Sie das Papier so, dass es einfacher zu zeichnen ist“, erklärt Lehrer Ian Knowles. „Arbeiten Sie an Ihren Stärken und kennen Sie Ihre Schwächen. Ein gutes spirituelles Prinzip! Denn was Sie tun, ist das Erlernen des spirituellen Lebens. Und dazu noch auf sehr praktische Weise.“ Knowles ist ein britischer Ikonograf, der seit 2008 in Kirchen und Klöstern im Heiligen Land arbeitet. „Der Zweck der Ikone ist das Gebet“, sagt er. „Um Christus zu malen, musst Du mit ihm zusammen sein und ihn erleben.“ 

Seit dem Start sind elf Jahre vergangen. Die Folgen der Corona-Pandemie, als das „Icon Centre“ geschlossen war, sind überwunden. Das Atelier ist heute wieder ein Ort, um palästinensische Christen zu ermutigen, trotz der schwierigen politischen Situation ihre Heimat nicht zu verlassen. Die unabhängige christliche Organisation steht unter der Schirmherrschaft des melkitischen Patriarchats in Jerusalem und ist bei der Palästinensischen Autonomiebehörde als gemeinnützig anerkannt. 

Inspirierend und tiefgreifend

Mit der Londoner „Prince’s School of Traditional Arts“ wurde eine Partnerschaft geschlossen. Sie ermöglichte es zehn Ikonen-Schülern, ein weltweit anerkanntes britisches Diplom in Ikonografie zu erwerben. Einer von ihnen ist Anton Aoun aus Bethlehem. Er ist heute einer der führenden Ikonografen im „Icon Centre“. Schon mit acht Jahren begann er zu malen. Nach seiner Rückkehr aus England entwickelte er seinen eigenen Stil weiter. Obwohl er jung ist, wirkt seine Kunst inspirierend und tiefgreifend.  

„Kunst drückt Kultur aus“, erklärt sein Meister Knowles. „Die liturgische Kunst ist die Frucht der tiefsten Erfahrung, die im Herzen des christlichen Glaubens liegt: die  Verklärung der Menschheit durch die Begegnung mit Gott in Jesus Christus. Liturgische Kunst ist also viel mehr als nur das Dekorieren einer Kirchenmauer. Das Heilige Land war der Ort, an dem das Christentum seine eigene Kultur zu formen begann.“

Jerusalem, Bethlehem und andere biblische Stätten, meint Knowles, führten „dorthin, wo das Wort Fleisch wurde und unter uns wohnte“. Seine eigenen Forschungen legen nahe, dass das Heilige Land 300 Jahre lang das spirituelle Herz des römisch-byzantinischen Reichs war: von 324 bis 638, bis zur Eroberung Palästinas durch die Araber. „Christen haben das Land geformt, regiert und bevölkert. Klöster blühten in der Wüste auf. Kreativität und Handel florierten.“

Priester und Ordensleute, Studenten und Laien

Studenten aus den einheimischen christlichen Gemeinschaften der melkitischen, orthodoxen, lateinischen, assyrischen, armenischen und maronitischen Kirche, aber auch junge Menschen aus der ganzen Welt werden heute im „Icon Centre“ willkommen geheißen. Zu der Ikonen-Schule gehören Priester und Ordensleute, Studenten und Laien, die sich mit der mystischen Kunst befassen möchten. 

Was sie alle miteinander verbindet, ist ein Wort aus der Apostelgeschichte: „Und alle, die glaubten, waren an dem selben Ort und hatten alles gemeinsam“ (Apg 2,44). Eine der Schülerinnen erzählt: „Ikonen haben mich seit jeher fasziniert – und das in den vergangenen Jahren immer mehr. Weil sie eine Art Synthese von Gott, Gebet und auch Ökologie sind. Denn die Materialien stammen alle aus der Natur.“

Theologie der Ikonografie

Die jungen Menschen, die am „Icon Centre“ studieren, sollen nach drei Jahren ihrer Ausbildung in der Lage sein, als professionelle Ikonografen nicht nur über ein solides Verständnis der Techniken zu verfügen, sondern auch über die Theologie und Spiritualität der Ikonografie Bescheid zu wissen, um andere zu unterrichten, Werke von herausragender Qualität zu produzieren und ihren eigenen Kirchen im Heiligen Land mit tiefer  Einsicht zu dienen. 

„Auf dass diese wertvolle Kunst wieder aus den Quellen des Glaubens gedeihen kann, die einst den Aposteln übergeben wurden“, sagt Anton Aoun. „Während des gesamten Prozesses beim Schreiben einer Ikone sind wir uns bewusst, dass Christus im Mittelpunkt steht“, fährt er fort. „So tragen wir die berechtigte Hoffnung in uns, dass das  Heilige Land seine lebendigen Steine bewahrt, um ein Leuchtfeuer für eine Welt zu sein, die Gefahr läuft, den Glauben an Jesus Christus zu verlieren.“

Sitz in Bethlehem kein Zufall

Dass die Ikonenschule ihren Sitz in Bethlehem hat, der Geburtsstadt Jesu Christi, ist kein Zufall. Wie eine Ikone des himmlischen Vaters sei Christus auf diese Welt gekommen, sagt man hier. „Durch die Wiederherstellung eines wesentlichen Elements der christlichen, antiken Kultur wollen wir dazu beitragen, dass das schwindende christliche Bewusstsein der Stadt Bethlehem und der ganzen Region erneuert wird“, hofft Aoun. 

Das „Icon Centre“ verfügt über mehrere Klassenräume und Ateliers, eine Fachbibliothek für Ikonografie sowie eine eigene Kapelle, die auch für Pilger zugänglich ist. In einem  kleinen Kunstladen werden alle notwendigen Materialien für die Teilnahme an den Kursen angeboten. Die Pigmente stammen direkt aus dem Heiligen Land. Handgeschliffene Steine für Gelb stammen aus Jericho, Rosen zum Bemalen von Gesichtern aus Jerusalem. 

Eine Cafeteria lädt dazu ein, zu entspannen oder Kontakte zu knüpfen. Ein Besucherzentrum bietet die Möglichkeit, Arbeiten der Studenten zu betrachten, etwas über Bethlehems Ikonografie zu erfahren und an Seminaren teilzunehmen. 

Keine Ikone von der Stange

„Wir verkaufen keine Ikonen von der Stange“, versichert Aoun, „sondern auf Bestellung.“ Da jede Ikone durch Gebet, Reflexion, Diskussion und Forschung zu einem einzigartigen und unschätzbaren Werk geistlicher Kunst werde, das sich an seinem Bestimmungsort verkörpere, wollen Aoun und seine Kollegen eine Beziehung zu ihren Kunden aufbauen. 

„Zum Beispiel haben wir für die  britische Lichfield Cathedral zwei große Ikonentafeln für das Kirchenschiff angefertigt.“ Papst Franziskus habe im Februar 2017 in der anglikanischen Allerheiligen-Kirche in Rom eine Ikone von Christus dem Erlöser geweiht, die im „Icon Center“ hergestellt wurde, erzählt Aoun. 

Bluttränen in Anjara

„Eine Dame des Ritterordens vom Heiligen Grab in England gab eine Ikone in Auftrag, die Ian Knowles geschrieben hat. Sie zeigt die Jungfrau Maria in einem traditionellen palästinensischen Kleid.“ Die Tränen in ihren Augen beziehen sich auf ein Ereignis in Jordanien: In Anjara soll eine Statue der Muttergottes im Mai 2011 Blut geweint haben. „Das Jesuskind streckt seine Arme aus wie am Kreuz, das über dem Neuen Jerusalem steht.“

Metropolit Kallistos Ware, im vorigen Jahr verstorbener orthodoxer Bischof und Professor für orthodoxe Studien an der Universität Oxford, schrieb: „Manchmal werden Ikonen als Fenster zur Ewigkeit bezeichnet.“ Ihm erscheine aber der Vergleich mit einer Tür oder einem Tor angemessener. „Durch ein Fenster blicken wir aus der Ferne auf die Landschaft. Durch eine Tür betreten wir die Landschaft und werden Teil von ihr. Genau das ist das Wesentliche an der Ikone: Sie vermittelt Teilnahme, Begegnung, Gemeinschaft.“

Mittlerweile bietet die Ikonen-Schule auch Kurse für Kinder an. Für die Schüler, die voller Freude beginnen, das Antlitz Christi zu „schreiben“, ist es eine neue spirituelle Erfahrung, betend zu malen. Vielleicht werden auch sie später einmal als erfolgreiche Ikonografen die Fackel ihres christlichen Glaubens im Heiligen Land weiterreichen. Und Türen zur Ewigkeit aufstoßen.

Karl-Heinz Fleckenstein